23. Juni 2022

18:15 Anne C. Shreffler (Cambridge, MA) The Composer’s Voices – Performance as Creative Process

While the paradigm of the virtuoso-composer is often associated with 19th-century figures like Franz Liszt, this tradition has continued robustly into the 20th and 21st centuries, where it is not uncommon to find highly esteemed composers who also have flourishing careers as instrumentalists (including Jörg Widmann, Thomas Adès, and Amy Williams) or as noted conductors of their own and others’ music (such as Peter Eötvös and Tania León). Similarly, singer/composers such as Cathy Berberian, Joan LaBarbara and Meredith Monk pioneered new vocal techniques in their compositions (to which the label «performance art» does no justice). As previously separated genres converge, the creative work of jazz musicians such as Cecil Taylor, Ornette Coleman, and Wadada Leo Smith has finally been recognized as composition. These and many other figures in our musical life carry out impressive acts of artistic multi-tasking by combining formidable interpretive skills with creative vision.

At least since the rise of indeterminate music, improvisational practices, and performance art in the 1960s, the divisions among the traditional «triad» composer, performer and listener have become increasingly permeable. Electronic music, laptop composition, and improvisation have blurred the boundaries further. While the category «composer» occupies a favored position in the triad, each of these activities contributes to the work or creative experience; creation may result from the embodied practice of music making, and listeners are often called upon to produce meaning (and not only in indeterminate or conceptual works). At the same time, these boundaries continue to be argued over and defended, since the division of roles is baked into the structure of our musical life and each carries different degrees of prestige.

In this talk, I will reflect on how and why the categories of composer, performer, and listener have been drawn more exclusively in the past than they are today. Then I will consider some of the ways these divisions have been productively blended to create what we might call embodied composition or creative performance. Drawing on examples including Charles Ives, Tania León, Michael Finnissy, Cecil Taylor, and Kate Soper, I will examine works by composer/performers in which the act of playing or singing is an integral part of the composition, either individually or as part of a collaborative process.


Anne C. Shreffler pflegt eine lange Verbindung mit der Paul Sacher Stiftung, die sie im August 1986 zum ersten Mal besucht hat und der sie seit 1996 als Stiftungsrätin dient. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen vor allem im Bereich der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, mit Arbeiten u.a. über Younghi Pagh-Paan, Bruno Maderna, Anton Webern, Elliott Carter, Igor Strawinsky und John Corigliano. Sie interessiert sich auch für politische (sowie unpolitische) Musik, Institutionengeschichte und Musikgeschichtsschreibung im internationalen und globalen Kontext. Zusammen mit Felix Meyer hat sie mehrere Arbeiten publiziert, u.a. über Anton Webern und Elliott Carter, sowie (mit Wolfgang Rathert und Carol Oja) den Band Crosscurrents: American and European Music in Interaction, 1900–2000 herausgegeben. 1989 wurde sie an der Harvard University mit einer Dissertation über Anton Webern promoviert. Nach einer Tätigkeit als Assistenzprofessorin an der University of Chicago (1989–94) lehrte sie 1994–2003 an der Universität Basel. Seit 2003 ist sie James Edward Ditson Professor of Music an der Harvard University.


24. Juni 2022

9:00 Hermann Danuser (Berlin) Musikintellektuelle Heimat – eine Federzeichnung für Felix Meyer

In Fortsetzung des autobiographischen Schlusskapitels von Metamusik («Metamusikers Spiegelbild») schildert der in Berlin lebende Kollege des Jubilars, was für ihn eine «musikintellektuelle Heimat» sei. Für die beiden aus der Ostschweiz stammenden, an derselben Universität promovierten Musikologen brachte die gemeinsame Tätigkeit an der Paul Sacher Stiftung Basel eine intensive, fruchtbare und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Eine Einleitung führt in die Thematik ein, indem Heimatorte, künstlerisch-wissenschaftliche Genealogien und Freundeskreise skizziert werden – allgemeine Faktoren am Einzelfall sichtbar machend. Der Hauptteil des Vortrags veranschaulicht dann drei Bereiche musikintellektueller Praxis an verschiedenen Exempeln: Lehrend Lernen (Alte Musik, Klavierabend, Festschrift), Formate (Kolloquium) sowie Sprachen (Crosscurrents/Fremdsprachen, Schrift-Deutsch/Schwizer-Dütsch). Und zuletzt schlägt der Vortragende, in einer als Epilog getarnten Klimax über musikologisches Multitasking, den Bogen von der eigenen Person endlich weg – hin auf Felix Meyer, den zu feiernden Kollegen, den hochverdienten Direktor der Paul Sacher Stiftung.


Hermann Danuser studierte Musik, Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Zürich, übersiedelte nach der Promotion nach West-Berlin, wo er sich 1982 an der Technischen Universität habilitierte. Er lehrte darauf als Professor in Hannover, Freiburg im Breisgau und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1988 gehört er dem Stiftungsrat der Paul Sacher Stiftung an; von 1992 bis 2022 koordinierte er dort die Forschung. Seine Hauptinteressen liegen in der neueren und neuesten Musikgeschichte, Historiographie, Ästhetik, Theorie, Analyse und Interpretationsforschung. Bei Edition Argus (Schliengen) erschienen die Bücher Weltanschauungsmusik, Metamusik sowie – vierbändig – Gesammelte Vorträge und Aufsätze.


10:00 Matthias Schmidt (Basel) Der Virtuose als Komponist – Überlegungen zu Fritz Kreisler

Instrumentalvirtuosen begleitete seit dem 19. Jahrhundert insbesondere im deutschsprachigen Raum ein schlechter Ruf: Sie standen für das Ideal des reproduzierenden Künstlers, galten aber zugleich als Musiker, die ihre technischen Fertigkeiten zum Selbstzweck erhoben. Ob erfolgreiche Virtuosen auch als Komponisten Anerkennung verdienten, war entsprechend Gegenstand musikpolitisch unterfütterter Deutungskämpfe um die Musik als «deutscheste» der Künste. Die vorurteilsbeladene Gestalt des leichtsinnigen und effektorientierten Virtuosen ist selbst im Urteil über Komponisten wie Franz Liszt oder Max Reger allgegenwärtig. Zur Auseinandersetzung mit dem, was ein komponierender Virtuose sei und welche Reaktionen zwischen Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung er hervorrief, eignet sich besonders gut Fritz Kreisler. Kreisler wird bis heute in einer eigenartigen Doppelwertigkeit verortet: zwischen Moderne und Gegenmoderne, zwischen Konzertsaal und Salon (beides übrigens oftmals mit antisemitischem Unterton). Dabei markiert er mit seinem nüchternen Kunstbegriff unter den Bedingungen der technischen Medienentwicklung nach 1900 einen Künstlertypus, der die Strategien des Virtuosen für die Hörenden in kompositorisch bemerkenswerter Weise erfahrbar macht.


Matthias Schmidt studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Bonn, der Freien Universität Berlin (M.A. 1992, Dr. phil. 1996) und an der Universität Wien. Habilitation an der Universität Salzburg (2001). Zahlreiche Stipendien (DAAD, Thyssen-Stiftung, ÖFG) in Italien und mehrfach in den USA. Nach Gastdozenturen und Professurvertretungen in Österreich, Deutschland und den Niederlanden ist er seit 2007 Full Professor für Musikwissenschaft an der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Musikästhetik und -geschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Eingebildete Musik. Richard Wagner, das jüdische Wien und die Ästhetik der Moderne (2019) sowie Fritz Kreisler. Ein Theater der Erinnerung (2022).


11:30 Regina Busch (Wien) Von Pizzicatosätzen, Bach-Kantaten und Privataufführungen

Die gegenseitige Beeinflussung von Komponieren und Aufführen kann geplant oder unwillkürlich und zufällig geschehen, manchmal ergeben sich, wie bei Anton Weberns Orchesterstücken op. 6, andere Fassungen des Werkes. Möglich ist aber auch, dass im Zuge des Komponierens die Auseinandersetzung mit Werken anderer Komponisten explizit gesucht und durch deren Aufführung stimuliert wird, d. h. dass so etwas wie eine selbstgelenkte kompositorische Rezeption stattfindet. Aus gegebenem Anlass steht Webern im Zentrum des Vortrags. Beobachtungen zu Arnold Schönberg und Alban Berg sowie zu weiteren Komponisten und Musikern aus der Wiener Schule (und ihrem Umkreis) werden ergänzend herangezogen. Weberns Selbstverständnis als Komponist und Dirigent sowie seine Praxis bei Proben und Aufführungen sollen anhand ausgewählter Beispiele zur Sprache kommen.


Regina Busch studierte in Köln und Berlin Mathematik (Diplom 1973) und Musikwissenschaft (Promotion 1987 bei Rudolf Stephan über Leopold Spinner). Von 1974 bis 1977 nahm sie an den Stephan-Kolisch-Kursen in Mödling teil. Von 1980 bis 1986 war sie Mitarbeiterin bei der Schönberg-Gesamtausgabe, danach von 1986 bis 2021 bei der Berg-Gesamtausgabe. Seit 2008 ist sie im Editorial Board der Webern-Gesamtausgabe. Ihre Vorträge und Publikationen befassen sich mit der Wiener Schule und ihrem Umkreis, mit Emigrationsforschung, zeitgenössischer Musik, Aufführungslehre sowie mit Editionen. Derzeit bereitet sie die Edition der Korrespondenzen Schönberg–Webern, Steuermann–Webern und Kolisch–Schönberg/Berg/Webern für die Reihe «Briefwechsel der Wiener Schule» vor. Mit der Paul Sacher Stiftung und Felix Meyer ist sie seit 1988 verbunden, als sie zum ersten Mal an der Sammlung Anton Webern forschte – für die sie immer wieder Sammlungsergänzungen vermittelt hat.


14:30 László Vikárius (Budapest) Béla Bartók als «neu-schaffender» Interpret eigener Werke

«Auf dem Gebiet des Beethoven-Spiels hatte ich von Anfang an meine eigenen Ideale.» So erinnerte sich Béla Bartók in einer kleinen Schrift zu Ehren seines Klavierprofessors, des Liszt-Schülers István (Stephan) Thomán. Pianisten der jüngeren Generation hoben mehrmals gerade sein Beethoven-Spiel als etwas Besonderes hervor. Einige Kritiker und Pianisten meinten sogar, sein Beethoven-Vortrag sei nicht «interpretierend», sondern «neuschaffend» gewesen. Eine Möglichkeit, die Interpretation kreativ und originell (statt «nachschaffend ») zu gestalten, ist die Improvisation sowohl im Allgemeinen als auch in gewissen Details des Vortrags. Obwohl Bartók ganz eindeutig nach Vollständigkeit und Endgültigkeit seiner Werke strebte, gibt es verschiedene Momente in seinen Kompositionen, in seiner Notierungsweise und in seiner Haltung gegenüber der «Realisierung» von Musik, die eine gewisse improvisatorische Einstellung doch nicht ganz ausschließen oder unterdrücken. Anhand des Studiums ausgewählter Quellen, Handschriften und Aufnahmen von kleineren und größeren Werken Bartóks, werden Möglichkeiten der «Neuschaffung» systematisch reflektiert. Die Untersuchung erstreckt sich auf die folgenden Gebiete: 1. Improvisatorisch gebliebene und offen gehaltene Elemente während des Kompositionsprozesses; 2. Ossia-Möglichkeiten; 3. Fassungen und Varianten; 4. Förderung von Kreativität beim Klavierstudium; 5. «kreative» Vortragsmomente in den erhaltenen Aufnahmen von Bartóks Klavierspiel.


László Vikárius leitet seit 2005 das Bartók-Archiv in Budapest (Institut für Musikwissenschaft, Geisteswissenschaftliches Forschungszentrum), wo er bereits seit 1988 als Mitarbeiter tätig war. Er ist seit 2015 auch Editionsleiter der Kritischen Gesamtausgabe Béla Bartók (gegründet von László Somfai) und, zusammen mit Vera Lampert, Herausgeber des ersten veröffentlichten Bandes, Für Kinder: Frühfassung und revidierte Fassung (Bd. 37, 2016). Er ist außerdem Professor und Programmleiter des Promotions-Studiums in Musikwissenschaft an der Liszt Musikakademie (Universität). Als er im akademischen Jahr 1992/93 Stipendiat am Institut für Musikwissenschaft der Universität Basel war, nahm er zum ersten Mal Kontakt mit der Paul Sacher Stiftung und mit Felix Meyer auf.


15:30 Wolfgang Rathert (München) «At home in all music» – Anmerkungen zur Universalität des Komponisten, Pianisten und Dirigenten Lukas Foss

Lukas Foss, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährt, nimmt innerhalb der beeindruckenden Galerie großer «composerperformers» des 20. Jahrhunderts eine besondere Stellung ein. Vielfalt und Anspruch seiner musikalischen Begabungen und Aktivitäten waren so umfassend, dass es schwerfällt, sie überhaupt adäquat zu fassen; kein Geringerer als sein Freund und ehemaliger Studienkollege Leonard Bernstein charakterisierte Foss daher als «authentisches Genie». Paradoxerweise scheint jedoch gerade die Universalität, die Foss als Komponist und Interpret verkörperte und die ihn die gewohnten Grenzen zwischen musikalischen Kulturen und Praktiken mühelos überqueren ließ, zu einem Hindernis für die adäquate Würdigung seiner Leistung geworden zu sein. Der Vortrag soll dieser Beobachtung in der Reflexion der biographischen, zeit- und musikgeschichtlichen Rahmenbedingungen von Foss’ Laufbahn und Werk nachgehen.


Wolfgang Rathert wurde 1987 an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über Charles Ives promoviert. 1999 habilitierte er sich an der Humboldt-Universität zu Berlin und wurde 2002 auf eine Professur mit dem Schwerpunkt Musik des 20. Jahrhunderts an die Ludwig-Maximilians-Universität München berufen. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind die Musik der USA, die Klassische Moderne sowie die Geschichte der Klaviermusik und des Klavierspiels.

Wolfgang Rathert ist Mitglied der Stiftungsräte der Paul Sacher Stiftung Basel – die er erstmals 1989 für einen längeren Forschungsaufenthalt besuchte – und der Géza Anda Foundation Zürich. Zuletzt erschienen: Géza Anda. Pianist. Ein Panorama zum 100. Geburtstag / A Panorama on his 100th birthday (2021). «Offenheit, Treue, Brüderlichkeit …» Karl Amadeus und Elisabeth Hartmann im Briefwechsel mit Hans Werner Henze, hrsg. mit Andreas Hérm Baumgartner (2022).


18:00 Podiumsgespräch mit Tania León, Konstantia Gourzi, Beat Furrer und Anne C. Shreffler
Moderation: Dominik Deuber

(Biografien im Abschnitt Podium / Konzert ensemble oktopus)